Seenotretter berichtet an der Gesamtschule von seinen Erlebnissen

Am 1. Oktober war Kurt Schiwy zu Gast an der Gesamtschule Waldbröl. Schiwy engagiert sich seit einigen Jahren bei „Sea Watch“, einer privaten Seenotrettungsorganisation und war schon mehrfach Helfer auf einem der Schiffe, der „Sea Watch 3“.

Schiwy erinnerte zunächst an die Irrfahrt der St. Louis, die im Jahr 1939 von Hamburg aus mit 937 deutschen Juden an Bord Richtung Kuba unterwegs war, dort jedoch keine Landeerlaubnis erhielt. Die Passagiere, die nach Kuba auswandern wollten, um dem NS-Regime zu entkommen, erlebten daraufhin das gleiche Schicksal in den USA und in Kanada. Zurück in Europa durften sie schließlich im belgischen Antwerpen von Bord, von wo aus sie auf Belgien, die Niederlande, Frankreich und Großbritannien aufgeteilt wurden. Die meisten der Geflüchteten seien dann doch noch dem Vernichtungswahn der Nationalsozialisten oder den unmenschlichen Zuständen in den Flüchtlingscamps zum Opfer gefallen.

Die gefährlichste Grenze der Welt verläuft zwischen Europa, Afrika und dem Nahen Osten quer durch das Mittelmeer

Es sei kaum zu fassen, dass heute wieder und immer noch Schiffe mit Geflüchteten im Mittelmeer von Hafen zu Hafen unterwegs sind und vergeblich um Genehmigung bitten, an Land zu gehen. Zurzeit würden die meisten privat geführten Seenotrettungsboote gar aus fadenscheinigen Gründen an der Ausfahrt aus europäischen Häfen gehindert. Stattdessen überlasse man es lieber der libyschen Küstenwache, die Passagiere mit Gewalt an Land zurück zu bringen. Dort erwarte sie die Hölle, der sie gerade entkommen seien. Demütigung, Vergewaltigung, Folter und Sklaverei seien im zurzeit unregierbaren Libyen an der Tagesordnung. Anstelle von staatlicher Ordnung bestimmten Warlords das Schicksal der meist aus südlicheren Staaten wie Nigeria geflohenen Menschen.

Nigeria sei aufgrund seiner riesigen Erdölvorräte eigentlich einer der reichsten Staaten Afrikas. Leider teilten sich diesen Reichtum die Eliten des Landes auf, während der Großteil der Bevölkerung zunehmend verarme. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung müsse mit weniger als einem Dollar pro Tag auskommen. Und da, so Schiwy, käme unsere Verantwortung an der Misere ins Spiel. Europäische Ölkonzerne wie Dutch Shell und BP beuteten die Ölvorkommen aus und korrumpierten die politischen und wirtschaftlichen Eliten des Landes. Unser Öl und Benzin werde zu einem Teil aus Nigeria importiert. Wir profitierten insofern von den menschenverachtenden Zuständen in diesem Land. Die Landwirtschaft in dem ostafrikanischen Land sei staatlicherseits in den letzten Jahrzehnten so stark vernachlässigt worden, dass Nigeria mittlerweile Lebensmittel importieren müsse. Statt die aus größter Not flüchtenden Menschen aufzunehmen, unternähmen europäische und auch deutsche Politiker alles, um dies zu verhindern. Islamistische Extremisten würden ihr Übriges dazu tun, dass viele Menschen aus dieser Region nur noch wegwollen, ohne ein bestimmtes Ziel vor Augen zu haben.

„Es ersaufen in diesem Moment Leute im Mittelmeer. Das muss nicht sein.“

Schiwy erzählte eindrucksvoll, wie er zum Seenotretter wurde. Beim morgendlichen Gang zum Kiosk habe er auf den Titelseiten der Zeitungen das Bild des ertrunkenen Jungen Alan Kurdi am Strand der türkischen Ägäis gesehen. Das Bild ging damals um die Welt. Die Vorstellung, dass Kinder im Meer ertrinken und an den Strand gespült werden, wo zahllose Menschen in der Nähe ungerührt ihren Capuccino in der Strandbar trinken, hätten den Fernmeldetechniker, der selbst einen Sohn hat, der damals in Alans Kurdis Alter war, nicht losgelassen. Der Entschluss sei gereift, dass er sich dieser Verantwortung stellen und auf der Seawatch anheuern musste. Die Arbeit an Bord und die oft schwierige Bergung der Geflüchteten aus ihren unsicheren Booten wurden anschaulich dargestellt. Ganz konkrete Schicksale beeindruckten die Schülerinnen und Schüler und ihre Lehrerinnen und Lehrer am meisten. So die fast unmögliche Rettung einer Frau, die unter Einsatz aller körperlichen Kräfte in das Rettungsboot gehievt werden musste. Erst später wurde klar: Bei der Flucht hatte ihr ein Milizionär mit dem Gewehrkolben den Knöchel zertrümmert, so dass sie gar nicht auftreten und helfen konnte. Oder wie sie sie einmal 30 schwangere Frauen aus einem kleinen Boot retteten, von denen eine dann auf der „Sea-Watch“ ihr Baby zur Welt brachte. Oder der spontan improvisierte Gottesdienst einer Gruppe Geretteter. Eine Stunde lang sangen sie ergreifende Lieder aus Dankbarkeit für die Rettung aus größter Not. Sie waren der Hölle entkommen.

Eine Diskussion mit Schülern und Lehrern folgte dem etwa einstündigen Vortrag. „Das war die interessanteste Veranstaltung, die wir je in der Schule gehabt haben“, resümierte Luisa aus der 10a und Emma ergänzte: „Dass das alles so krass ist und ständig so im Mittelmeer passiert, war mir gar nicht klar“.

Fotos: Jakobus Boenisch